Gott sei Dank, dass ich zu den Guten gehöre

Seit Corona ist es ja so, dass Menschen entweder Querdenker oder komplette Wissenschaftsfans sind.

Dazwischen befindet sich eine große Lücke, die zur Zeit keiner auszufüllen scheint. Corona lässt die Inquisition des Mittelalters wieder virtuell aufleben. Wer nicht auf die führenden Virologen und das RKI hört, kommt auf den virtuellen Scheiterhaufen auf Facebook, Twitter und Co.

Die Ablassbriefe, sprich die (digitalen) Impfausweise und die Immunisierungsbescheinigungen für vollständig genesene runden die ganze Geschichte schön ab.

Der Mensch springt auch erst mal auf jedes Pferd drauf, was man ihm hinstellt. Und wer vom Pferd fällt, muss sofort wieder in den Sattel.

Corona ist auch schon ohne die zum Teil unsinnigen und wenig zielführenden Gesetze der Bundesregierung zur Religion mutiert. Es gibt Beispiele, wenn man von A nach B durch einen Ort C muss und im Ort C eine Ausgangssperre besteht, darf man ab 22h nicht von A nach B durch C fahren, sondern muss einen Umweg nehmen, selbst wenn man zwischendurch gar nicht aussteigen möchte. Sinnvoll ist diese Regelung ja nur, weil private Hauspartys vermieden werden sollen, was ich persönlich ja auch einsehe, aber in manchen Fällen wird auch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wenn die Ironie des Schicksals zuschlägt, schnappt die Polizei denjenigen, der mit dem Auto durch den Ort C fährt und der „Jogger“ auf oder von dem Weg zur Hausparty wird übersehen, steckt sich mit Corona an und in den darauffolgenden Tagen besucht er seine ungeimpfte 80-jährige Oma – alles völlig legal.

Menschen, die nur Angst, keine Ablehnung gegenüber einer Impfung haben, sind Ketzer und gehören verfolgt.

Ich selbst bin zur Zeit wenig von der Pandemie betroffen, weil ich allein lebe, im Homeoffice gut arbeiten kann und das Alleinsein für mich und meine Interessen nutze. Dennoch habe ich nicht nur Mitleid mit den Risikogruppen, Infizierten im Krankenhaus (ob Intensiv- oder Isolierstation) sowie deren Pflegepersonal, sondern auch mit den SchülerInnen aus prekären Verhältnissen für die die Schule die einzige adäquate Lernumgebung darstellt, den Künstlern, Schauspielern, deren Beruf es ist, vor lebendem – ja sogar atmendem – Publikum zu stehen (Stichwort #allesDichtMachen), den Gastronomen und FriseurInnen.

Gerade das Pflegepersonal auf den Intensivstationen erleben durch Corona eine höhere körperliche und psychische Belastung. Dennoch wollen die Betreiber der Klinken immer noch Kosten einsparen, frei nach dem Motto „Da geht noch etwas“. Trotzdem erlebe ich immer wieder durch die Diskussion #AllesDichtMachen und den Aufschrei der Mediziner und Pflegekräfte, dass jeder nur von seinem Standpunkt/Perspektive aus argumentiert. Wenn es aber um Solidarität geht, dann ist das ein Widerspruch in sich selbst. Man kann nicht solidarisch zu sich selbst sein. Solidarität setzt gesellschaftliches Gefälle voraus. Ich kann nur solidarisch mit einer anderen Gruppe sein, ich muss einstecken und verzichten, damit es anderen besser geht, so dass es insgesamt weniger Gefälle gibt. Stichwort: Ausgleich

Vielleicht wäre es hier bei der #AllesDichtMachen-Aktion geschickter gewesen, die Schauspieler hätten z.B. die ausweglose Situation der SchülerInnen in den Fokus genommen, denn diese ist meines Erachtens die schlimmste, die Auswirkungen werden sich erst im Laufe der Jahre zeigen, sind demnach nicht unmittelbar und scheinen weit weg, aber die Auswirkungen werden eines Tages da sein: schlecht gebildete SchülerInnen, eine zu große Spaltung zwischen gebildeten jungen Erwachsenen (aus der bildungsnahen Schicht) und den weniger gebildeten oder schlecht gebildeten jungen Erwachsenen aus prekären Verhältnissen. Das geschieht zwangsläufig und zwar nicht, weil SchülerInnen aus prekären Verhältnissen pauschal dümmer sind, sondern weil ihnen im Homeschooling die nötigen Lernmaterialien bzw. der Zugang zu diesen fehlen. Weiterhin fehlt ihnen dort die pädagogische und lernfördernde Unterstützung durch Lehrkräfte und für spezielle SchülerInnen auch SozialarbeiterInnen und die wichtigen zeitlichen Strukturen, regelmäßige Abläufe, um sich nicht vom Lernen ablenken zu lassen.

Aber von der Gruppe der SchülerInnen hört man so gut wie nichts, keine öffentlichen Internet-Auftritte, keine Aufschreie der Lehrerverbände, die das sofortige Öffnen aller SchülerInnen fordern. (Jedenfalls nicht, dass ich es mitbekommen habe.) Stattdessen wird vom Philologenverband NRW moniert, dass es unzumutbar sei, die SchülerInnen jeden Tag auf COVID-19 testen zu lassen.

Pandemie-Konzepte und -Szenarien in der freien Wirtschaft gibt es schon über zehn Jahren, nur die Bildungsministerien scheinen hier gepennt zu haben. Was soll ich von und in einem Land erwarten, in dem nicht mal die Bildungsministerien ihre Hausaufgaben erledigen? Warum gibt es hier zum Beispiel keine Beherbergungskonzepte – gerade für die SchülerInnen aus unterprivilegierten Verhältnissen könnten hier neue Lernchancen in Pandemie-Zeiten entstehen. Aber die Bildungsinteressen dieser Klientel gehen sowohl den meisten SchauspielernInnen, GastronomenInnen, PolitikernInnen (hier auch schon vor Corona) und den MitarbeiternInnen aus dem Medizinbereich am A – llerwertesten vorbei.

Während die Bildung in Deutschland verkommt, mutiert nicht nur das Virus fleißig vor sich hin, sondern auch unsere Gesellschaft. Es wird wieder fröhlich denunziert, wer sich nicht benimmt und sich nicht orthodox an die noch so absurdeste Corona-Regel hält wird angezeigt. Ich selbst halte mich auch an die Regeln, aber nicht, weil sie gesetzt sind, sondern weil ich selbst nicht krank werden will und auch mein Umfeld nicht anstecken möchte. Andere Regeln befolge ich, auch wenn sie absurd sind, aber nur um des lieben Frieden willens, z.B. die persönliche Adresse zu hinterlassen, obwohl eine Ansteckung im Gastronomie-Außenbereich mit 5 Meter Abstand zum nächsten Gast so gut wie unmöglich ist.

Aber da sind wir wieder beim Thema Solidarität, Egoismus, die eigenen Interessen im Vergleich zu denen des Kollektivs. Welche Bedürfnisse und Interessen zählen mehr?

Hört man von Impfnebenwirkungen, wird der niedrige, prozentuale Anteil im Vergleich zu den positiven – überwiegenden – Vorteilen dargestellt. Äußert man in dem Falle dennoch Bedenken, ist man gleich Querdenker. Dabei lügen Statistiken immer. Statistisch hat eine Frau in Deutschland 1,57 Kinder. Kennen Sie eine Frau hier in Deutschland, die genau 1,57 Kinder hat? – Ich nicht!

Statistiken sind wertvoll, wenn man kollektive Aussagen, Auswirkungen und Prognosen treffen möchte, dem Einzelnen helfen sie nicht.

Wir müssen uns eingestehen, dass wir, was Corona angeht, in einer Tragödie befinden. Es gibt keinen Königsweg, wir können nicht davon ausgehen, dass wenn wir Masken tragen, keinen weiteren Kontakt hegen, in absoluter Isolation leben, nicht in eine andere Tragödie zu geraten, z.B. fehlende Hilfe im Ernstfall, weil sich kein Weiterer in derselben Wohnung befindet. Ödipus ist das zum Schicksal geworden, was er mit aller Gewalt versucht hat, zu verhindern.

Am Wochenende hatte ich in diesem Zusammenhang ein tragisches Erlebnis: Ein alter Mann konnte vor einem Café draußen nicht richtig aufstehen, der klapprige „Gartenstuhl“ und der kleine „Gartentisch“ haben es ihm nicht ermöglicht, auf dem schiefen Kopfsteinpflaster Halt zu finden. Ich musste wirklich überlegen, helfe ich ihm jetzt und umgehe damit die Corona-Beschränkungen oder lasse ich den Mann einfach gewähren und riskiere damit, dass er stürzt und sich ggf. einen Oberschenkelhalsbruch zuzieht? Da ich FFP-2-Maske trug, entschied ich mich, ihm zu helfen. Gut, die Hände waren nicht frisch desinfiziert, aber alles andere wäre meines Erachtens unterlassene Hilfeleistung gewesen.

Ich wünsche mir nicht mehr Masken, mehr Impfdosen und mehr Desinfektionsmittel, ich wünsche mir mehr Diskurs. Dass man Menschen, die zur Zeit leiden, zuhört, auch wenn sie nicht dem Pflegepersonal angehören, die Sorgen, Ängste und Nöte der Anderen ernst nimmt und Hilfe leistet. Den Mut, in kritischen Momenten vom vorgeschriebenen Weg abzuweichen, um größeren Katastrophen vorzubeugen. Denn Vorbeugen ist besser als Hintenrüberzufallen.

Im November, kurz nach dem 2. Lockdown eingeläutet wurde, trafen sich in einem Haushaltsgeschäft 4-5 Menschen ohne Maske zu einer Weinprobe. Mit solchen Menschen habe ich dann natürlich weder Verständnis noch Mitleid, wenn auf die Weinprobe dann das echte große Heulen auf der Intensiv- oder Pflegestation folgt. Aber ein bisschen mehr Nachdenken, persönliches Mitdenken und Abwägen, statt Hass, Intoleranz, Denunzierung und tödlicher Isolation. Ein bisschen mehr Kant, ein bisschen weniger „an den eigenen A*llerwertesten denken, ein bisschen mehr sapere aude, ein bisschen weniger Dogmatismus und Absolutismus, keine Wissenschaft von oben herab und „folgt mir, ich habe die Weisheit mit Löffeln gefressen“, keine arrogante, moralinsaure und hochnäsige Wissenschaft, sondern auch die Fähigkeit zu haben, sich Fehler einzugestehen und offen zu sein für andere Meinungen, denn am Ende werden die Toten gezählt – auf beiden Seiten (wir haben ja momentan nur zwei).

Also, in diesem Sinne Sapere aude und Gott sei Dank, dass wir zu den Guten gehören.

Hinterlasse einen Kommentar